Neue Forschung über Autismus: Genetische und entwicklungsbezogene Unterschiede zwischen früher und später Diagnose
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SP3 -
18. Oktober 2025 um 02:13 -
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- Neue Forschung über Autismus: Genetische und entwicklungsbezogene Unterschiede zwischen früher und später Diagnose
- Zentrale Forschungsergebnisse
- Biologische Bedeutung des Diagnosealters
- Zwei genetische Faktoren mit unterschiedlichen Profilen
- Unterschiedliche Entwicklungsverläufe
- Bedeutung für die Neurodiversitäts-Debatte
- Geschlechtsspezifische Unterschiede beim Diagnosealter
- Vier biologisch unterschiedliche Autismus-Subtypen
- Einordnung und Grenzen der Forschung
- Ausblick und praktische Bedeutung
Neue Forschung über Autismus: Genetische und entwicklungsbezogene Unterschiede zwischen früher und später Diagnose
Die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse, über die Ellas Blog berichtet, markieren einen bedeutsamen Wendepunkt in der Autismusforschung. Die im Oktober 2025 in Nature veröffentlichte Studie des internationalen Forschungsteams um Xinhe Zhang und Varun Warrier von der Universität Cambridge stellt eine grundlegende Annahme infrage: dass es sich bei Autismus um eine einheitliche Störung handelt.
Zentrale Forschungsergebnisse
Die Studie analysierte Daten aus vier großen Geburtskohorten sowie genetische Informationen von mehr als 45.000 Personen. Die Ergebnisse zeigen deutliche Unterschiede zwischen früh und später diagnostizierten Formen von Autismus:
Früh diagnostizierte Kinder (typischerweise vor dem 7. Lebensjahr) zeigten häufiger allgemeine Entwicklungsverzögerungen, geistige Beeinträchtigungen sowie deutliche Auffälligkeiten in Sprache und Motorik. Diese Gruppe wies vermehrt seltene, stärker wirkende genetische Varianten auf, sogenannte de-novo-Mutationen, die spontan auftreten und nicht von den Eltern vererbt werden. Die Verhaltensauffälligkeiten begannen früh in der Kindheit und stabilisierten sich im Laufe der Zeit.
Später diagnostizierte Kinder und Jugendliche hatten dagegen oft eine unauffällige frühe Entwicklung, zeigten aber im Laufe der Zeit subtilere Verhaltens- und Wahrnehmungsunterschiede. Diese Gruppe wies häufiger Komorbiditäten wie ADHS, Depressionen oder PTSD auf. Ihre genetischen Risikoprofile ähnelten eher denen dieser Begleiterkrankungen als denen des frühkindlichen Autismus.
Biologische Bedeutung des Diagnosealters
Die Forschenden betonen, dass das Diagnosealter kein Zufall ist oder lediglich ein Zeichen dafür, dass "mildere Fälle" später erkannt werden. Genetische Faktoren erklären etwa 11 Prozent der Varianz im Diagnosealter – ein bescheidener, aber bedeutsamer Beitrag bei komplexen Merkmalen wie Autismus. Diese 11 Prozent entsprechen etwa dem Einfluss individueller soziodemografischer und klinischer Faktoren, die typischerweise weniger als 15 Prozent dieser Varianz erklären.
Professor Elliot Tucker-Drob von der University of Texas formulierte es prägnant: Der Zeitpunkt der Autismusdiagnose sei nicht einfach ein Artefakt der Erkennung, sondern ein primäres Merkmal, das verschiedene Formen von Autismus voneinander unterscheide.
Zwei genetische Faktoren mit unterschiedlichen Profilen
Die Forschenden identifizierten zwei polygene Autismus-Faktoren, die nur moderat genetisch korreliert sind (rg=0,38rg=0,38). Der erste Faktor ist mit früher Autismusdiagnose und niedrigeren sozialen und kommunikativen Fähigkeiten in der frühen Kindheit verbunden, zeigt aber nur moderate genetische Korrelationen mit ADHS und psychischen Erkrankungen. Der zweite Faktor ist mit späterer Diagnose und erhöhten sozioemotionalen und Verhaltensschwierigkeiten in der Adoleszenz assoziiert und weist moderate bis hohe positive genetische Korrelationen mit ADHS, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen auf.
Diese Befunde werden durch frühere Forschung gestützt, die zeigt, dass Autismus und ADHS gemeinsame genetische Faktoren teilen, aber unterschiedliche Muster psychiatrischer Komorbiditäten aufweisen. Interessanterweise fanden Studien, dass das durchschnittliche genetische Profil von später diagnostiziertem Autismus dem von ADHD, Depressionen und PTSD näher ähnelt als dem von früh diagnostiziertem Autismus.
Unterschiedliche Entwicklungsverläufe
Mittels Growth-Mixture-Modellierung identifizierten die Forschenden zwei unterschiedliche Entwicklungspfade. Die erste Gruppe zeigte sozioemotionale Schwierigkeiten, die in der frühen Kindheit entstanden und bis ins Jugendalter stabil blieben. Die zweite Gruppe zeigte weniger frühe Probleme, entwickelte aber später sozioemotionale und Verhaltensschwierigkeiten, mit Diagnosen typischerweise in der mittleren Kindheit oder Adoleszenz.
Diese Entwicklungsverläufe erklärten einen erheblichen Teil der Variation im Diagnosezeitpunkt – ein Effekt, der demografische Faktoren wie elterliche Bildung oder sozioökonomischen Status bei Weitem übertraf. Dies unterstützt die Hypothese, dass genetische Einflüsse beeinflussen können, welche Autismus-Merkmale auftreten und wann sie sich manifestieren.
Bedeutung für die Neurodiversitäts-Debatte
Die Studienergebnisse haben wichtige Implikationen für die Neurodiversitäts-Debatte. Der Begriff Autismus-Spektrum sollte ursprünglich Unterschiede anerkennen und Schubladendenken vermeiden. In der Praxis hat diese Vereinheitlichung jedoch auch dazu geführt, dass reale Unterschiede verwischen, wie Ellas Blog zutreffend beschreibt.
Die Neurodiversitäts-Bewegung betont zu Recht die Gleichwertigkeit verschiedener Denk- und Wahrnehmungsweisen. Kritiker weisen jedoch darauf hin, dass die Stimmen derjenigen, die intensive Unterstützung benötigen, oft unterrepräsentiert sind. Der Begriff "profound autism" (tiefgreifender Autismus) ist innerhalb der Community umstritten. Einige Familien mit schwer beeinträchtigten autistischen Kindern fühlen sich der komplexen Behinderung oder Mehrfachbehinderung zugehöriger als der sogenannten Autismus-Szene, weil dort ihre Herausforderungen ernster genommen werden.
Die neuen genetischen Befunde könnten dazu beitragen, dass Menschen mit existenziellen Unterstützungsbedarfen, die sich nicht anpassen oder kompensieren können, diese Erwartungen nicht länger auferlegt werden. Sie unterstützen die Erkenntnis, dass einige autistische Menschen tatsächlich andere biologische Voraussetzungen haben als andere, ohne dass dies eine Hierarchie der Wertigkeit impliziert.
Geschlechtsspezifische Unterschiede beim Diagnosealter
Forschung zeigt, dass Mädchen und Frauen häufig später diagnostiziert werden als Jungen und Männer. Das mediane Diagnosealter für Jungen sank zwischen 2015 und 2024 von 7 auf 5 Jahre, während es für Mädchen bei etwa 8 Jahren blieb. Nur etwa ein Drittel der Mädchen wurden vor dem 5. Lebensjahr diagnostiziert, im Vergleich zu fast der Hälfte der Jungen.
Camouflaging (Maskierung) – das bewusste oder unbewusste Verbergen autistischer Merkmale – ist bei Frauen signifikant häufiger als bei Männern. Studien zeigen, dass bei Frauen ein stärkerer Zusammenhang zwischen Camouflaging und späterem Diagnosealter besteht. Allerdings sind Geschlechterstereotypen und unzureichende klinische Bewertungsinstrumente, die typisch weibliche Präsentationen von Autismus nicht erfassen, wahrscheinlich die Haupthindernisse im diagnostischen Prozess.
Vier biologisch unterschiedliche Autismus-Subtypen
Ergänzend zu den Befunden über das Diagnosealter identifizierte eine weitere Studie aus dem Jahr 2025, die über 5.000 Kinder aus der SPARK-Kohorte analysierte, vier klinisch und biologisch unterschiedliche Autismus-Subtypen:
Social and Behavioral Challenges (37 Prozent): Kernmerkmale von Autismus mit sozialen Schwierigkeiten und repetitiven Verhaltensweisen, aber typische Entwicklungsmeilensteine. Häufig komorbide Diagnosen wie ADHS, Angststörungen oder Depressionen.
Moderate Challenges (34 Prozent): Mildere Kernmerkmale von Autismus, typische Entwicklung, in der Regel keine komorbiden psychischen Erkrankungen.
Mixed ASD with Developmental Delay (19 Prozent): Verzögerte Entwicklungsmeilensteine, aber normalerweise keine Anzeichen von Angst oder Depression. Variation innerhalb der Gruppe bezüglich repetitiver Verhaltensweisen und sozialer Herausforderungen.
Broadly Affected (10 Prozent): Die kleinste Gruppe mit den umfassendsten Herausforderungen, einschließlich Entwicklungsverzögerungen, Kommunikationsschwierigkeiten, repetitiven Verhaltensweisen und komorbiden psychiatrischen Erkrankungen.
Jede dieser Gruppen zeigte unterschiedliche genetische Muster. Die "Broadly Affected"-Gruppe hatte mehr neu auftretende genetische Mutationen (de-novo), während die "Mixed ASD with Developmental Delay"-Gruppe eher vererbte Varianten trug.
Einordnung und Grenzen der Forschung
Die Forschenden selbst warnen vor Übergeneralisierungen. Das Diagnosealter wird nicht nur biologisch bestimmt, sondern auch von sozialen und kulturellen Faktoren beeinflusst, etwa davon, wann Eltern und Fachkräfte Auffälligkeiten wahrnehmen oder wie leicht Zugang zu Diagnostik besteht. Die identifizierten genetischen Varianten machen nur einen kleinen Anteil der Unterschiede aus; der Großteil bleibt offen und dürfte durch Umweltbedingungen, familiäre und soziale Umstände sowie individuelle Entwicklungswege beeinflusst werden.
Methodisch gibt es Einschränkungen: Das Diagnosealter wurde häufig rückblickend berichtet, was Ungenauigkeiten ermöglicht. Die untersuchten Daten stammen überwiegend aus westeuropäischen Kohorten, was die Übertragbarkeit auf andere Regionen einschränkt. Bei später diagnostizierten Personen traten häufiger Komorbiditäten wie ADHS oder Depressionen auf, und einige Forschende weisen darauf hin, dass diese Überschneidungen die genetischen Unterschiede mitprägen könnten.
Ausblick und praktische Bedeutung
Diese Studien sind kein fertiges Modell, sondern wichtige Puzzlestücke. Sie bringen Bewegung in festgefahrene Vorstellungen und ermöglichen neue Gespräche zwischen Wissenschaft, Praxis und gelebtem Alltag. Professor Uta Frith von der University College London äußerte die Hoffnung, dass weitere Subgruppen identifiziert werden und jede ein angemessenes diagnostisches Label findet. Sie betonte: "Es ist Zeit zu erkennen, dass 'Autismus' zu einer Sammelbezeichnung verschiedener Bedingungen geworden ist. Wenn von einer 'Autismus-Epidemie', einer 'Ursache von Autismus' oder einer 'Behandlung für Autismus' die Rede ist, muss die unmittelbare Frage sein: Welche Art von Autismus?"
Die Erkenntnisse könnten langfristig dazu führen, dass Förderung gezielter erfolgt, angepasst an unterschiedliche genetische und entwicklungsbezogene Hintergründe. Sie könnten auch helfen, die extreme Spannbreite im Spektrum besser zu verstehen und ein differenzierteres Bild von Autismus zu entwickeln – eines, das sowohl die Vielfalt innerhalb des Spektrums als auch die realen Unterschiede im Unterstützungsbedarf anerkennt, ohne Menschen in eine Wertehierarchie einzuordnen.